Der Nachtschreck

Diese Geschichte, obgleich in der Ich-Form geschrieben- ist rein fiktiv. Halt, nicht ganz: mein jüngerer Sohn litt auch jehrelang unter Pavor nocturnus. Ich kann Ihnen versichern, dass dieses Phänomen  ziemlich unheimlich sein kann, vor allem wenn man mit dem Kind alleine zu Hause ist...

DER NACHTSCHRECK ©by Alexa Innocenti

  Um eines gleich vorwegzunehmen: ich bin ein Mensch, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und sich nicht so leicht beeindrucken lässt. An den Himmel glaube ich ebenso wenig wie an die Hölle, und Übersinnliches kann mir allenthalben ein müdes Lächeln entlocken. Bis jetzt zumindest. Aber was sich letzte Nacht in meiner Wohnung abspielte, kann ich mir trotz Aufbietung aller Vernunft nicht rational erklären. Doch zunächst muss ich ein bisschen weiter ausholen:
Es begann kurz nach dem Auszug meines  Mannes, der uns vor einigen Wochen Knall auf Fall sitzen ließ, um mit einer Kollegin durchzubrennen. Das Ganze hat mich psychisch ziemlich mitgenommen, und seitdem neige ich auch ein wenig zur Schreckhaftigkeit.
Kurz nach unserer Trennung zeigte meine zweijährige Tochter massive Schlafstörungen. Sie fährt fast jede Nacht ein- oder mehrmals plötzlich schreiend aus dem Tiefschlaf hoch, schlägt panisch um sich und lässt sich minutenlang nicht beruhigen. In diesem Zustand scheint sie mich nicht zu erkennen und ist nicht ansprechbar. Die Kinderärztin konnte mich jedoch schnell beruhigen: "Ihre Tochter leidet wahrscheinlich an Pavor nocturnus  - umgangssprachlich auch Nachtschreck genannt."
Ich erfuhr zu meinem Erstaunen, dass rund 15% aller Kleinkinder unter diesem harmlosen Phänomen leiden, welches auch  keiner speziellen Behandlung bedarf. Da das Kind in einer Grauzone zwischen Wachen und Schlafen festhängt, erkennt es auch vertraute Personen nicht und reagiert auch nicht auf Stimmen oder Berührungen. Am nächsten Morgen erinnern sich die Kinder an nichts.
Die folgenden zwei Nächte schlief meine Tochter gut, doch in der Dritten wurde sie wieder vom Nachtschreck heimgesucht. Obwohl ich die Attacke bereits erlebt hatte, war ich noch verängstigter als das Kind selbst, das schrie wie am Spieß und  mit panisch aufgerissenen Augen eine Zimmerecke fixierte. Wieder zeigte sie sich erstaunlich resistent gegenüber meinen Beruhigungsversuchen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich aufs Neue erschöpft dem Schlaf hingab. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich sehr verängstigt war und in dieser Nacht sämtliche Lichter in der Wohnung anließ. Hätte ich nicht unseren treuen Labrador Kenny bei mir gehabt, wäre ich wahrscheinlich zu den Nachbarn "geflüchtet". Wer selbst schon mal so einen Anfall  bei seinem Kind erlebt hat weiß, wie beängstigend das sein kann. Da kann dann schon mal die Phantasie mit einem durchgehen. Jedenfalls behielt ich Kenny die ganze Zeit im Auge, ob er in irgendeiner Weise komisch reagiert, doch der Hund war die Ruhe selbst.
Unsere nächtlichen Aktivitäten folgten in den folgenden Wochen einer gewissen Regelmäßigkeit, so dass man bereits von einer Routine sprechen konnte: Kind schläft, Mutter schaut fern, Kind schreit, Mutter läuft rüber, Hund folgt, Mutter tröstet Kind, Kind fixiert mit Riesenaugen einen unsichtbaren Punkt an der Decke, Mutter folgt Blick, sieht jedoch nichts, Mutter hat Angst, Kind hat Angst, Mutter schaut Hund an, Hund schläft.
Mit der Zeit lernte ich damit gelassener umzugehen, und der sogenannte Nachtschreck konnte zumindest mich nicht mehr in Angst und Schrecken versetzen.
Eine erneute Untersuchung bei der Kinderärztin brachte keine neuen Erkenntnisse, im Gegenteil, meine Tochter entwickelte sich trotz ihrer Schlafstörungen prächtig. Ich war sehr erleichtert.
Das, was gestern Nacht jedoch in unserer Wohnung geschah, war etwas GANZ ANDERES. Zunächst jedoch glich das Szenario dem der vergangenen Wochen:  mein Kind schreckte kurz vor Mitternacht aus dem Schlaf und fing an zu brüllen. Diesmal klang es noch dramatischer als sonst. Alarmiert hastete ich ins Kinderzimmer, den treuen Kenny dicht auf den Fersen. Der große Hund brachte mich fast zu Fall, als er sich mit aufgestelltem Nackenfell an mir vorbei drängte und vor mir in das Kinderzimmer stürmte. Ein tiefes Knurren entwich seiner Kehle. Ich stürzte zu meiner Tochter, nahm sie hoch und versuchte, sie zu beruhigen, vergeblich. Sie schrie in heller Panik und fixierte mit aufgerissenen Augen, in denen sich der blanke Terror spiegelte, einen unsichtbaren Punkt an der Zimmerdecke. Kenny bellte zähnefletschend in dieselbe Richtung, er wirkte wie ein wildes Tier. In diesem Moment wurde es schlagartig kälter im Raum, man konnte unsere Atemluft kondensieren sehen. Kenny flippte fast aus und meine schreiende Tochter barg ihr Gesichtchen an meinem Hals. In diesem Moment erkannte ich, dass sie wach war. Das reichte. Ich schnappte meine Autoschlüssel und rannte mit Kind und Hund aus der Wohnung.
In dieser Nacht schliefen wir bei meiner Mutter.
Am nächsten Morgen, im sonnendurchfluteten Wohnzimmer meines Elternhauses, hätte ich fast an meinem Verstand gezweifelt. Rational ging ich die vergangene Nacht noch einmal durch. Man konnte sicherlich vieles im Nachhinein erklären, aber wie stand es mit Kennys Verhalten? Der Hund war außer sich vor Wut und Furcht gewesen. Ich hatte ihn noch nie zuvor  in diesem Zustand gesehen. 
Später begleitete meine Mutter uns nach Hause. Ich hatte nicht vor, dort schon wieder zu nächtigen, sondern wollte nur ein paar Sachen meiner Tochter und Kennys Futter holen. Auf der Fahrt schwatzte mein Mädchen munter vor sich hin, doch sie wurde immer stiller, je mehr wir uns unserem Wohnhaus näherten. Kenny hingegen wurde  zunehmend  unruhiger und begann leise zu knurren.
Schon als wir in unsere Straße einbogen, sah ich die Streifenwagen und das Auto eines Bestattungsinstituts. Meine Tochter starrte mit großen Augen in unsere Einfahrt, und Kenny winselte vor sich hin. Ich bat meine Mutter, bei den beiden im Auto zu bleiben. Beklommen stieg ich aus unserem Wagen und näherte mich dem Eingang. In diesem Moment kamen mir zwei Männer mit einem Metallsarg entgegen, ein Polizist folgte ihnen und musterte mich scharf. Er hatte mich anscheinend bereits als Zeugin gesucht.  Als Zeugin für ein Verbrechen, das in unserem Mehrfamilienhaus verübt wurde.
Denn in der letzten Nacht, gegen zwölf Uhr, wurde in der Wohnung über uns eine Frau von einem Unbekannten ermordet.
Um genau drei Minuten vor Mitternacht...fing meine Tochter in der vergangenen Nacht zu schreien an.