Chiara


Chiara

Misstrauisch beäugte Chiara ihre Familie. Seit Tagen lag eine Spannung in der Luft, die fast greifbar war. Doch niemand machte sich die Mühe, ihr den Grund zu erklären. Seufzend ließ sie sich wieder auf dem Bett nieder und schloss die Augen. Wie sie es hasste, ausgegrenzt zu werden. Zu sehr waren all die anderen, ähnlichen Situationen noch in ihrem Bewusstsein präsent.Situationen, die ihr Vertrauen in die Welt in den Grundfesten erschüttert hatten. Bisherhatte das Schicksal es mit ihr nicht gut gemeint. In ihrem kurzen Leben hatte sie schon viel Schlimmes erlebt. Von einer Familie zur nächsten, von einem Heim ins andere. Doch sie spürte, diese Familie war anders. Wie liebevoll wurde sie damals von ihnen aufgenommen! Eine wohlige Wärme umfing ihr Herz bei dieser Erinnerung. Doch leider hatte sich die anfängliche Euphorie in letzter Zeit merklich abgekühlt. Chiara konnte sich den plötzlichen Gefühlsumschwung nicht erklären. Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie wusste es nicht. Eine Schranktür knallte zu und riss sie aus ihren trüben Gedanken. Im Flur mühte sich Mama mit zwei schwer aussehenden Taschen ab. Chiara näherte sich neugierig, doch Mama beachtete sie nicht. Erst als sie fast über sie stolperte, sagte sie barsch: "Mensch Chiara, geh aus dem Weg. Siehst du nicht, dass du störst?" Traurig zog Chiara sich zurück. Sie erkannte die Anzeichen: die Familie wurde ihrer überdrüssig. Bald schon würden sie sich von ih trennen. Ihr Herz weinte bei dem Gedanken.

Am nächsten Morgen dachte sie, sie hätte alles nur geträumt. Die Familie war so ausgelassen wie früher, als wären sie in der Nacht ausgetauscht worden. Chiara konnte es kaum glauben. Freudig machte sie sich über ihr Frühstück her. Immer wieder blickte sie hoch und versuchte, in den Gesichtern ihrer Familie zu lesen. Sie bemerkte, dass aller Augen auf ihr ruhten und sonnte sich glücklich in der ungewohnten Aufmerksamkeit. "Papa, kommt Chiara mit?", fragte Benny und reichte ihr mit seinen klebrigen Fingern einen Keks. "Selbstverständlich", erwiderte der Vater und zeigte ein Haifischlächeln. "Hast du gehört, Chiara? Das wird bestimmt ein toller Urlaub", jubelte der Kleine. Chiaras Herz hüpfte vor Freude. Alles wird gut, dachte sie glücklich.

Als Benny im Kindergarten war, konnte Chiara ein seltsames Gespräch zwischen ihren Adoptiveltern belauschen. "...alles wie besprochen", sagte der Vater. "Wann?"
 "Nach dem Essen", entschied der Mann. Die Frau seufzte. "Denkst du, es ist die richtige Entscheidung?" "Sicher. Oder hast du eine bessere Idee? Zurückbringen können wir sie ja
schlecht." Während sie sich mit dem Reißverschluss einer übervollen Tasche abmühte, sagte die Frau zaghaft: "Ich meine doch nur, wegen Benny..." "Er wird darüber hinwegkommen. Schließlich fahren wir heute Abend in Urlaub. Das Meer wird ihn schon ablenken."

Chiara konnte sich auf diesen Dialog keinen Reim machen. Offensichtlich wollten sie sie nicht zurückbringen. Das war doch eine gute Neuigkeit. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen.

Als Papa sie nach dem Essen - oder der Henkersmahlzeit, wie er lachend erklärte - zu sich rief, stieg sie freudig mit ihm ins Auto. Vor Aufregung konnte sie nicht stillsitzen und zappelte vergnügt auf ihrem Sitz herum. Wie wundervoll die kühle Luft der Klimaanlage um ihren Körper strich. Die Fahrt führte sie aus der Stadt hinaus in ein Waldgebiet.

Endlich hielt der Wagen an und der Mann befahl Chiara auszusteigen. Flirrende Hitze senkte sich augenblicklich wie eine Decke auf sie nieder. Papa band ihr einen Strick um den Hals und führte sie zu einem Baum. Chiara folgte ihm vertrauensvoll. Auf seinen Befehl hin setzte sie sich. Als sie sah, wie er das andere Ende des Stricks um den Baumstamm wand, wurde sie unruhig und winselte, doch es kümmerte ihn nicht. Er sah sie nicht einmal an. Für ihn war sie nur ein lästiges Etwas, das seinen Urlaubsplänen im Wege stand.

"Mach's gut, Chiara. Bestimmt findet dich jemand", sagte er ungerührt und ging zum Auto. Was?
Nein! Entsetzt beobachtete Chiara, wie das Fahrzeug sich entfernte und um eine Kurve verschwand. Nein, bitte nein! Komm zurück! Lass mich nicht alleine!

Ihr schrilles, verzweifeltes Bellen schallte durch den schattigen Wald. Immer wieder warf sie sich winselnd nach vorne und zerrte aus Leibeskräften an dem Strick, der sich schmerzhaft in ihren Hals grub. Luft, sie bekam keine Luft. Namenlose Panik übermannte sie.

Die Stunden verronnen. Chiara hatte entsetzliche Angst. Hunger und Durst begannen sie zu schwächen, doch mit der Kraft der Verzweiflung bellte und jaulte sie weiter, bis ihre Kehle wund war und sie erschöpft zusammensackte. Ihr Atem ging flach und stoßweise.
Angestrengt lauschte sie der Stille des Waldes in der Hoffnung auf menschliche Stimmen. Doch alles blieb ruhig. Niemand hörte ihr Rufen.

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 (Das Schicksal eines ausgesetzten Hundes: Meine Gedanken zum alljährlichen Leiden der Haustiere zur Ferienzeit...)