Auszug aus "Wie gerädert"
Für die Anthologie "Geister, Aliens, Detektive"
Elena Werner hatte in ihrer beruflichen Laufbahn schon viele Leichen gesehen, aber diese hier war sogar für die hartgesottene Kriminalkommissarin etwas Besonderes. Nicht, dass viel Blut oder gar Gehirnmasse im Spiel war. Das Gegenteil war der Fall, und gerade das Wissen um diesen Grund war die Ursache für Elenas Unbehagen. Die Tote, die wie eine hingeschleuderte Marionette vor dem Couchtisch lag, war augenscheinlich unverletzt. Es gab auf den ersten Blick keinerlei Hinweis auf eine äußerliche Gewalteinwirkung. Es war der Gesichtsausdruck der Frau, der sich auf ewig in Elenas Gedächtnis einbrennen würde. Sie konnte einfach nicht den Blick von diesem schmerzstarrenden Gesicht abwenden. Der zu einem stummen Schrei weit aufgerissenen Mund. Als ob der Kiefer ausgerenkt war, schoss es der Kommissarin durch den Kopf. Die gebrochenen Augen des Opfers, in denen immer noch das namenlose, pure Entsetzen stand, welches die Frau heimgesucht und ihr Ende verursacht hatte. Nicht einmal der Tod in all seiner Endgültigkeit hatte den Ausdruck des puren Terrors in dem vogelähnlichen, kleinen Gesicht weichwaschen können.
"Was ist eigentlich passiert?", wandte sich Elena an den Kollegen der Spurensicherung.
"Tja, wenn wir das wüssten. Kein gewaltsames Eindringen. Keine sichtbaren Kampfspuren. Alle Fenster sind zu, die Tür war von innen mehrfach verschlossen", meinte dieser und wies mit dem Kinn zur Haustür. Elena runzelte die Stirn und trat näher an die Tür. Drei verschiedene Sicherheitsschlösser. Und nicht nur das. Auf den ersten Blick wirkte die Türe vollkommen normal, von den Aufbruchspuren der Feuerwehr abgesehen. Sie unterschied sich in nichts von den anderen Wohnungstüren auf dieser Etage. Doch bei näherem Betrachten erkannte man eine Besonderheit: diese Türe hier war aus Stahl! Die Bewohnerin des Appartements hatte offensichtlich unter starkem Verfolgungswahn gelitten.
Elenas Plastiküberschuhe knisterten bei jedem Schritt, als sie sich in den anderen Räumlichkeiten umsah. In dem winzigen Appartement gab es allerdings nicht viel zu entdecken. Außer, dass alle Fenster vergittert waren, was sie für eine im 4. Stock gelegene Wohnung als ziemlich übertrieben empfand. Vor wem wollte die Frau sich denn schützen? Vor Spiderman?
Wie gerädert
- Auszug -
Kerstin war mit ihren Befragungen im dritten Stockwerk angekommen und klingelte an der Wohnungstür einer gewissen Silvia Bellheim. Von drinnen erklang im selben Moment wütendes Gebell, dann wurde die Tür bei vorgelegter Kette einen Spaltbreit geöffnet. "Ja bitte?"
"Kripo Augsburg, Steinbach. Darf ich einen Moment hereinkommen?"
"Warten Sie einen Augenblick, ich muss erst Devil in die Küche sperren, sonst lässt er Sie nicht in Ruhe." Kurze Zeit später wurde die Haustür erneut geöffnet und eine attraktive junge Frau in Jeans und T-Shirt ließ Kerstin eintreten. Aus einem der Räume drang warnendes Knurren. Keine Sorge, der beißt nicht", winkte Silvia Bellheim ab. Aus dem auf dem Wohnzimmertisch stehenden kleinen Lautsprecher drang leises Greinen, dann herrschte wieder Stille. Ein Babyfon. "Frau Bellheim, wir ermitteln in einem Tötungsdelikt, das sich vergangene Nacht in diesem Gebäude zugetragen hat. Können Sie mir irgend etwas dazu sagen? Frau Bellheim... alles in Ordnung?"Die junge Frau war leichenblass auf die Couch gesunken und starrte Kerstin fassungslos aus weit aufgerissenen Augen an. "Es ist Frau Neumann, nicht wahr?", flüsterte sie. "Oh mein Gott..."
Gegen vierzehn Uhr trafen sich alle Mitarbeiter in Elena Werners Büro.
"Also, was haben wir bis jetzt? Kerstin, Thomas: Gibt es irgendwelche Zeugenaussagen?"
"Nun, nicht direkt. Einige Mieter haben gegen Mitternacht polternde Geräusche aus der Wohnung gehört. Niemand hat sich jedoch deswegen Gedanken gemacht, zumal die Wohnungsnutzerin, Frau Maria Neumann, als verrückt verschrien war. Sie soll einige Zeit in der Psychiatrie gewesen sein und musste starke Medikamente einnehmen. Angeblich schlug sie des Öfteren mal ihre Möbel kurz und klein." Thomas zuckte die Achseln. "Ich weiß, das klingt bescheuert. Dann habe ich noch was: Ein gewisser Herr...", er schlug in seinem Notizblock nach, "Ah, Herr Adem Izgül hat seiner Aussage nach eine seltsame Beobachtung gemacht. Als er um 23.50 zufällig aus dem Fenster auf die Straße blickte, sah er unter der dem Haus gegenüber liegenden Laterne einen Schatten, der zu ihm herüberschaute. Er rief seinen Sohn, und dieser bestätigte die Aussage. Vor dem Haus stand etwa zu Tatzeit ein körperloser Schatten. Ich denke, wir holen Herrn Izgül her und fertigen ein
Phantombild an." Verhaltenes Prusten und offenes Gelächter erklang.
"Findet ihr das etwa witzig?", fragte Elena scharf. "Ich komme eben aus der Rechtsmedizin. Viel können sie noch nicht sagen, aber ich habe die Röntgenbilder gesehen. Frau Neumann ist das bedauernswerteste Opfer, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Nicht ein einziger Knochen in ihrem Körper ist heil geblieben. Doc Klein hat es mit einer mittelalterlichen Foltermethode verglichen. Die Frau wurde sprichwörtlich gerädert. Die Schmerzen müssen unbeschreiblich gewesen sein. Sie hat alles bewusst mitbekommen, ist wahrscheinlich erst nach stundenlangem Todeskampf qualvoll an Kreislaufversagen
gestorben. Na, immer noch zu Späßen aufgelegt?"
Beschämt blickte ihr Team zu Boden. Kerstin räusperte sich. "Entschuldige, Elena. Geh jetzt bitte nicht gleich auf mich los, aber ich habe hier ein paar ähnliche Zeugenaussagen. Eine Frau Bellheim aus dem dritten Stock hat gegen Mitternacht besagtes Poltern gehört. Pass auf, hier ist ihre Aussage:
"Es ist mir ehrlich gesagt ein wenig peinlich, und ich weiß auch nicht, in welcher Art und Weise Ihnen meine Aussage nützen kann. Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was ich vergangene Nacht erlebt habe. Sie werden danach wahrscheinlich denken, ich bin genauso verrückt wie die Neumann. Ich habe im Wohnzimmer ferngesehen, als mein kleiner Sohn Robin plötzlich zu schreien anfing. Seit mein Mann uns verlassen hat, neigt er zu Albträumen, deshalb war ich zuerst auch nicht beunruhigt, als er wieder mal weinend aus dem Schlaf hochfuhr. Ich stand auf und wollte eben zu ihm gehen, als sich unser Familienhund knurrend an mit vorbeidrängte und ins Kinderzimmer rannte. Panisch stürzte ich hinterher, auf das Schlimmste gefasst. Doch der Hund beachtete Robin gar nicht. Er bellte zähnefletschend die Zimmerdecke an. Sein Nackenhaar war gesträubt wie bei einem Wolf, und er bellte in so einem schrillen Ton, ganz anders als sonst. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Robin schrie und schrie und starrte ebenfalls nach oben. In diesem Moment ertönte aus der Wohnung über uns lautes Poltern, als ob jemand oder etwas auf den Boden gefallen ist. Ich dachte zuerst, Frau Neumann will sich somit über den Krach bei uns beschweren. Sie hat sich ständig über uns beschwert, wissen Sie. Sie war keine besonders nette Frau. Doch dann, und das war das wirklich unheimliche, wurde es schlagartig kalt im Zimmer. Ich meine, WIRKLICH kalt, so dass unser Atem kondensierte. In der Wohnung, im Juni! Ich war außer mir. Tja, und dann war plötzlich alles vorbei. Ich habe keine Ahnung, was da oben los war, aber ich weiß, dass ich noch nie solche Angst in meinem Leben hatte."
"Wow", sagte Elena nur.
(Nominiert für den "Vincent Preis 2015 - Der Horror Award" in der Kategorie Kurzgeschichten)