Auszug aus "Slenderman"


Slenderman

- Auszug -


Wiebke Stolz starrte durch den Einwegspiegel auf das blasse junge Mädchen, das auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes saß und unermüdlich eine ihrer dunkelblonden Haarsträhnen zwirbelte. Die Spitzen waren noch feucht. Man hatte ihr erlaubt sich frisch zu machen und ihr neue Kleidung gebracht, doch Wiebke konnte trotzdem nicht den Anblick der vor kurzem noch blutverschmierten Hände des Mädchens vergessen. Als die Verdächtige jetzt an ihren Fingernägeln zu nagen begann, unter denen vor wenigen Stunden Blut und Gewebefetzen ihres Opfers klebten,  wurde es der normalerweise hartgesottenen Polizistin beinahe übel.
"Wann kommt denn endlich der Vater?", fragte sie Brunnberg, der sich zu ihr gesellte und ebenfalls in den Verhörraum blickte.
"Sitzt im Flieger. Kommt gerade aus Paris. Aber er weigert sich, sie zu sehen. Er will sie in ein Heim stecken, hat er gesagt."
"Von einer Seite her verständlich", murmelte Wiebke.
Die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem leisen Pling und eine etwa fünfzigjährige Frau in einem dunkelblauen Kostüm eilte über den Flur auf sie zu.
"Die Psychologin ist da. Fangen wir an."

26.Dezember
  So, Weihnachten ist nun also auch vorbei. Papa hat mir dieses Tagebuch hier geschenkt, einen neuen iPad und noch 100 Euro. Ob er mir damit seine neue Flamme schmackhaft machen wollte? Als ob ich mich kaufen lasse!
Veronica heißt die Schlange, und sie ist Italienerin. Papa hat anscheinend ein Faible für Ausländerinnen. Seine letzte Tussi war Polin. Zum Glück hat die sich nicht lange gehalten. Aber diese hier...irgendwas ist anders, ich kann es fühlen. Scheiße! Ach Mama, warum hast du mich verlassen? Ich will nicht bei ihm bleiben, wenn er diese Veronica heiratet. Lieber bringe ich mich um.

Wiebke nahm noch einmal die Akte Berger zur Hand. Ein Passbild Tamaras war im Innenteil an einen Bericht geheftet. Mit klaren blauen Augen und einem scheuen Lächeln blickte sie direkt in die Kamera. Ein hübsches Mädchen, dachte Wiebke automatisch. Dunkelblonde Locken umrahmten ein ovales Gesicht, auf der kecken Nase tummelten sich Sommersprossen. Das Foto war schon etwas älter. Es stammte aus der Zeit, als Tamaras Mutter noch lebte. Bis jetzt wussten sie über den Hintergrund der Täterin nur, dass sich die Eltern scheiden ließen, als ihre Tochter drei Jahre alt war. Das Mädchen wohnte bei der Mutter, die vor eineinhalb Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Seither lebte sie bei ihrem Vater.
Sie blätterte weiter.

  31. Dezember
  Wir feiern Silvester doch tatsächlich in dem Restaurant von der Tussi! "Bella Italia" oder wie der Saftladen sich nennt. Und um Mitternacht soll ich dann mit der anstoßen oder was? Wenn ich da wirklich mitspiele, dann nur wegen Papa. Ich hoffe, er weiß es zu schätzen.

  18. Februar
  Heute hat Markus mich gefragt, ob ich mit ihm gehen will. Natürlich hab ich ja gesagt!
Er ist soooooo süß...ich liebe ihn. Glaube ich zumindest. Ich meine, Liebe...was ist das eigentlich? Mama hat mich angeblich geliebt, und doch hat sie mich verlassen. Papa hat Mama mal geliebt und sie dann verlassen. Mich liebt er angeblich auch, trotzdem würde er mich ohne zu zögern gegen seine Veronica eintauschen. Wenn das Liebe ist, kann ich drauf verzichten. 
Dennoch ist es schön, mit Markus rumzumachen. Er küsst wirklich total gut. Ich überlege gerade...in zwei Wochen ist Papa auf Geschäftsreise in Großbritannien. Ich denke, ich werde Markus dann zu mir nach Hause einladen...

3. März
  Ich hasse sie, hasse sie, hasse sie...ich habe noch niemals in meinem Leben jemanden so dermaßen gehasst! Der Teufel soll sie holen, die blöde Schlampe!
Was passiert ist? Nichts ist passiert, dank IHR! Markus ist wie verabredet zu mir nach Hause gekommen. Heute hätte mein erstes Mal sein sollen. Viele Mädchen aus meiner Klasse haben es schon hinter sich. Ich hatte alles schon so schön geplant und war total aufgeregt. Markus kam also am Nachmittag und wir gingen auf mein Zimmer. Dort hatte ich alles ganz romantisch vorbereitet, mit Kerzen und Musik und so... er küsste mich ganz zart und unsicher, und das fand ich so süß, dass ich fast weinen musste. Keine Ahnung warum. Ich sagte ihm jedoch, es ist in Ordnung. Wir zogen uns aus und er sagte ich sei das schönste Mädchen, das er je gesehen hat. Ich zog ihn auf mich rauf und -
In diesem Moment ging die Tür auf und dieses DING, diese Veronica, streckt den Kopf herein! Papa hat ihr doch tatsächlich aufgetragen, nach mir zu sehen, während er in England ist. Als ob ich noch ein Baby wäre! Sie war total entsetzt, als sie uns sah und befahl Markus zu gehen. Was zum Teufel geht es sie an, was ich mit meinem Freund mache? Bloß weil sie sich bei Papa schönmachen will! Sie hat ihn natürlich sofort angerufen. Ich sage nur: Hausarrest für eine Woche, Taschengeld gestrichen und Jungfrau bin ich immer noch! Vielen Dank, Miststück!

   Oh Mann, dachte Wiebke und legte das Tagebuch beiseite. Zwischen Täterin und Opfer herrschte also von Anfang an böses Blut. Sie ließ nochmal das Gespräch mit der Kinderpsychologin vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Tamara war nie zuvor auffällig geworden. Sie besuchte das Gymnasium, war Zweitbeste ihrer Klasse, allerseits beliebt und gab als Berufswunsch Kinderärztin an. Was um Himmels Willen hatte aus dem netten, intelligenten Mädchen eine kaltblütige Mörderin gemacht?
Ihr Team hatte sich heute Nachmittag das Band der städtischen Überwachungskamera angesehen und fassungslos beobachtet, wie das Opfer, die fünfunddreißigjährige Gastronomin Veronica Lombardi, um zwölf Minuten nach Mitternacht die Türe ihres Restaurants abschloss und nichtsahnend über den dunklen nebligen Parkplatz zu ihrem Auto ging.  Was dann folgte, war Horror pur. Aus dem Nichts stürzte sich eine schwarzgekleidete Gestalt auf die Frau und schlug brutal mit einem Golfschläger von hinten auf sie ein. Dünne Nebelschwaden durchzogen das Bild und machten es zum Teil unscharf, doch auch der fehlende Ton konnte der Dramatik der Szenerie nichts von ihrem Schrecken nehmen. Einige Beamte wandten sich ab, als auf dem Bildschirm zu sehen war, wie die Gestalt immer und immer wieder auf das wehrlos am Boden liegende Bündel einschlug und das Blut nur so spritzte. Sie hörte erst zu schlagen auf, als  eine Gruppe Studenten auf  die Schreie aufmerksam wurden und sie festhielten, bis die Polizei kam. Unter der schwarzen Verkleidung mit der weißen Maske kam ein junges Mädchen zum Vorschein, fast noch ein Kind, mit den kalten Augen eines Killers...


(Erschienen in der Anthologie "Der Glaube an Übersinnliches" / Net-Verlag)